DAS BAD, SEINE KAPELLE UND IHRE MADONNA
Das Bad und seine Kapelle haben die Geschichte des Kurortes Lostorf während Jahrhunderten miterlebt und miterlitten. Der Lostorfer Kunsthistoriker Anton Guldimann (1903 – 1960), in Lostorf bekannt als «Bader Toni» (ein direkter Nachkomme der alten Badewirt-Familie), hat die Geschichte des Bades und seiner Kapelle erforscht.
Der von den Römern um das Jahr 100 n. Chr. entdeckte Gesundbrunnen von Lostorf geriet in den dunklen Zeiten der Völkerwanderung in Vergessenheit und wurde erst rund 1000 Jahre nach dem Abzug der letzten Römer aus unserem Land am Anfang des 15.
Jahrhunderts wieder gefunden. Das 1966 einem Brand zum Opfer gefallene alte Bad wurde zum Teil auf römischen Grundmauern errichtet. Etwas nordöstlich davon wurde, ebenfalls im 15. Jahrhundert, die den Aposteln und Märtyrern Philippus und Jakobus geweihte Kapelle neu gebaut oder wiedererrichtet. Urkundlich erwähnt wird sie allerdings erst 1509.
Der schlichte rechteckige Bau ist mit einem Dachreiter versehen. Die Innenausstattung der Kapelle stammt aus den Achtzigerjahren des 19. Jahrhunderts. Sie ist geprägt vom Kunstempfinden des späten 19. Jahrhunderts, dem Historismus. Dieser entwickelte keinen eigenen Stil, sondern bediente sich an Stilelementen vergangener Epochen.
So sehen wir über dem Barockaltar der Kapelle die Kopie der Sixtinischen Madonna von Raffael. Von den zwei figürlichen Darstellungen der Kapelle führt uns die Kopie der Muttergottes mit Kind zum Mythos der Madonna vom Bad Lostorf, die Statuette von Jakobus dem Älteren zum geschichtlichen Ursprung der Badkapelle.
Die Kapelle dürfte die ursprüngliche Heimat der legendenumwobenen Madonna vom Bad Lostorf gewesen sein. Das vermutlich im frühen 15. Jahrhundert entstandene spätgotische Gnadenbild gelangte, nach dem Konkurs des Bades 1912, auf verschlungenen, letztlich nicht ganz geklärten, Wegen schliesslich in den Besitz des Historischen Museums Basel, wo es sich heute noch befindet. Bei der Muttergottes mit Kind in der Badkapelle handelt es sich lediglich um einen Abguss des Originals. Der ursprünglich von Anton Guldimann stammende Satz «Solange die Madonna vom Bad Lostorf nicht wieder zurückgekehrt ist, liegt auf dem Bad kein Segen mehr» ist mittlerweile in Lostorf sprichwörtlich geworden. Das Schicksal des Bades hat ihn bis zur Stunde nicht widerlegt.
Die Statuette von Jakobus dem Älteren, einem der Schutzpatrone der Kapelle, aber auch Patron der Pilger und Wanderer, erinnert an die wahrscheinlichen Ursprünge der Kapelle. Vor der Wiederentdeckung der Heilquellen im 15. Jahrhundert war sie Wegkapelle am alten Weg nach Zeglingen. Sie gehört in die Reihe von Kapellen, die an einem Übergang über unsere Jurahöhen stehen: der Laurentius
Kapelle oberhalb von Erlinsbach, der Ulrichs-Kapelle in Rohr und der St.-Nikolaus-Kapelle auf dem Hauenstein.
Seit dem späten 19. Jahrhundert gab es keine namhafte Restauration der Kapelle mehr. Die Badbesitzer überliessen sie ihrem Schicksal. Der Öffentlichkeit war sie kaum mehr zugänglich. Im Verlauf der Jahre war die Natur im Begriff, dieses Kulturgut zurückzuerobern. Erst im Jahre 2020 hat eine Gruppe von Freiwilligen die Kapelle von überhandnehmendem Gestrüpp befreit.
Gegenwärtig wandeln sich die Träume des ehemaligen Kurortes Lostorf, von einer Wiedergeburt des Bades, möglicherweise zu einer Utopie. Der Gründe sind viele: An den maroden Badruinen nagt der Zahn der Zeit. Die Infrastruktur im Innern des Gebäudes ist in einem erbärmlichen Zustand. Abgesehen davon,
ob diese Probleme durch eine Sanierung oder durch einen Abbruch mit einem Neubau gelöst werden könnten, stellt sich die wesentliche Frage, ob sich ein neues Bad Lostorf am bestehenden Standort im Konkurrenzkampf der zahlreichen Bäder behaupten und im Badetourismus als zukunftsfähig erweisen könnte. Dabei ist längst das heilende Badewasser nicht mehr allein ausschlaggebend. Die Wünsche
der Badegäste sind anspruchsvoll und vielfältig geworden. So warten z. B. ältere und gebrechlichere Gäste nicht bloss auf attraktive Wanderwege, die über Stock und Stein bergauf und bergab führen, sondern auch auf leichte und bequeme Spazierwege, jüngere und sportliche auf einen Tennis- oder
Golfplatz. Solche und ähnliche Bedürfnisse könnten im Bad Lostorf aus topografischen Gründen nicht befriedigt werden.
War der Konkurs 1912 der Badewirt-Familie Guldimann, die während eines halben Jahrtausends die Geschicke des Bades bestimmt hatte, und das Verschwinden der Madonna der Beginn eines langen Sterbens des Bades Lostorf? Für Dutzende anderer Heilbäder hatte um diese Zeit die letzte Stunde schon
geschlagen. Die Heilbäder-Euphorie der letzten Jahrhunderte hatte ein Ende gefunden. Bei prominenten Bädern – wie dem Bad Lostorf – dauert der Todeskampf etwas länger. Nun ist das Bad seit bald zwanzig Jahren geschlossen. Fachleute glauben kaum mehr an eine Renaissance eines Badbetriebs mit längeren Kuraufenthalten. Ein kontinuierlicher Ausbau des medizinischen Angebots und der Infrastruktur, wie z. B. in Schinznach und Zurzach, ist nach einer so langen Schliessung kaum mehr aufholbar. Sollten die Meinungsverschiedenheiten der Besitzer mit den Stockwerkeigentümern des Wohntrakts nicht bald mit einem Kompromiss enden, bleibt nur noch die Hoffnung auf einen regionalen Tagestourismus, der bis zur Schliessung des Bades recht rege gewesen ist.
Ob sich dieser wirtschaftlich lohnt, ist fraglich, denn das Bad Lostorf verfügt nur über eine mässig warme Thermalwasserquelle. Mit einem Quellaustritt von 20°C verfügt es zwar die für ein Thermalbad geforderte Mindesttemperatur, müsste aber für den Badebetrieb, abgesehen vom ökologisch bedenklichen Energieverbrauch, mit erheblichen finanziellen Folgen auf ca. 28°C aufgeheizt werden.
Ein totes Bad braucht keinen, durch eine himmlische Schutzpatronin vermittelten, Segen mehr. Das ehemalige Gnadenbild hat als profaniertes historisches Kunstwerk im Historischen Museum Basel seine ihm angemessene Heimstätte gefunden. Vorstellungen, dass seine Rückkehr eine Wiedergeburt des Bades Lostorf bewirken könnte, sind ins Gebiet des Aberglaubens zu verweisen.