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Das Lostorfer Gemeindemagazin

KINDERGARTEN EINMAL ANDERS

Wer in diesen Tagen einen Blick in den Kindergarten Dreirosen wirft, ist wohl ziemlich erstaunt über das ungewohnte Bild, das sich bietet: Kinder turnen über das Mobiliar, essen unter Tischen liegend ihr Znüni und machen Ringkämpfe auf dem Teppich…

Der Kindergarten befindet sich mitten im Projekt «spielzeugfreier Kindergarten», welches von der Suchtpräventionsstelle Olten begleitet und unterstützt wird: Alle Spielsachen, deren Zweck vorgegeben ist (Auto, Puppen, Eisenbahn, etc.), sind für drei Monate weggeräumt worden. Die Kinder bestimmen im Verlaufe der ersten Woche des Projektes selber, welche Spielsachen zuerst «in die Ferien gehen». An deren Stelle gibt es Tücher, Wäscheklammern, Seile, Schachteln, Steine, Kissen, Bockleitern, Matratzen – und nicht vergessen: Das gesamte Mobiliar darf von nun an ins Spiel miteinbezogen werden.

Zuallererst einmal eine ungewohnte Freiheit für viele Kinder, welche sie zu Beginn eher zögerlich, dann aber immer vergnügter und sicherer auszuleben beginnen.

Fragen wie: «Darf ich den Spielplatz wechseln…, darf ich aufs Klo gehen…, darf ich trinken gehen…», werden seltener und auch die Ausrichtung auf die Kindergartenlehrperson nimmt ab. Die neue Freiheit, Znüni zu essen, wann und wo man möchte, wird ebenfalls rege genutzt.

Auch die Kindergärtnerinnen gewöhnen sich mehr und mehr an ihre veränderte Rolle: Sie sind diejenigen die sich zurücknehmen, die Kinder lediglich beobachten, für die Sicherheit zuständig sind, wenn notwendig einen Prozess begleiten und das ganze Projekt dokumentieren.

Was ins Auge fällt: Die Kinder sind meist auf irgendeine Art in Bewegung. Sie hüpfen, tanzen, klettern rauf, springen runter, rennen, balancieren, ringen, kämpfen miteinander und werden von Tag zu Tag mutiger und experimentierfreudiger.

Es ist viel Energie, Lebendigkeit, Lachen, Freude, Lärm und Tempo im Raum. Eine Meerjungfrau feiert Geburtstag, ein Katzenhaus wird gebaut, ein Theater mit Prinzessinnen, einer Hexe, einem Drachen und Freudentanz wird vorgeführt und vieles mehr.

Ein sehr wichtiger Teil in diesem ganzen Setting ist der sogenannte blaue Stuhl: Wenn ein Kind ein Anliegen hat, einen Wunsch äussern will oder es eine Schwierigkeit nicht selber lösen kan, darf es sich auf diesen blauen Stuhl setzen und mit der Glocke klingeln. Dies ist dann für alle das Zeichen, dass sie ihr Spiel unterbrechen und rund um diesen blauen Stuhl herum Platz nehmen sollen.

Ein spannendes Lernfeld: Wie formuliere ich mein Anliegen lösungsfokussiert? Zum Beispiel, statt: «Niemand will mir helfen den Tisch zu tragen», zu bitten: «Ich will diesen Tisch nach drüben transportieren, wer hilft mir dabei?».

Oder zuerst überprüfen: Habe ich schon selber überlegt, Lösungen gesucht, Ideen ausprobiert, mit den Betroffenen direkt gesprochen, bei anderen Kindern nachgefragt, mein Patenkind um Hilfe gebeten? Ist die gesamte Klasse eine sinnvolle Ressource oder nicht? Was ist eigentlich mein Bedürfnis, mein Gefühl?

Zu Beginn wird sehr oft geklingelt und sehr schnell kommen auch die Beschwerden von all jenen, die sich in ihrem Spielfluss unterbrochen und gestört fühlen.

Es ist erstaunlich, wie klar manche ihr Anliegen formulieren und diese Runde führen können. Ebenso spannend und herausfordernd ist es für die Lehrperson, bei Unsicherheiten und Sackgassen die Kinder ohne zu viel Einmischung wieder auf ein fruchtbares Gleis zurückzuführen.

Wozu denn ein spielzeugfreier Kindergarten, was hat das ganze Projekt für einen Hintergrund und Mehrwert? – Und was hat das Ganze mit Suchtprävention zu tun?

Zuerst einmal ist es keine Absage an die gebräuchlichen Spielsachen, kein Entweder-Oder, sondern lediglich ein Zeitraum, in welchem die Kinder sich und ihre Umgebung auf andere Art und Weise erfahren und erkunden können:

Eine Zeit, in welcher sie ihren offensichtlichen und natürlichen Bewegungsdrang ausleben und immer sicherer und mutiger werden können. Ein Raum, in dem sie ihren Rythmus – Bewegung, Ruhepausen, Znüni, nach draussen gehen, Kontakt, Rückzug – selber gestalten.

Ein Feld, in welchem sie lernen, für sich und ihre Anliegen einzustehen, Grenzen – ihre und die der anderen – zu erfahren und zu üben, einen konstruktiven Umgang damit zu finden. Die Konfrontation mit eben diesen Grenzen hilft bei der Entwicklung von gesunder Frustrationstoleranz. Nicht immer ist jedes Bedürfnis (sofort) erfüllbar. Das Kind braucht daran nicht zu verzweifeln, sondern findet einen Weg in etwas Neues. Eine Gelegenheit intensiv zu verhandeln bei der Organisation und Kreation ihres Spiels, in Kontakt zu gehen, zu reden, auszutauschen, Bestärkung, aber auch Ablehnung ihrer Vorschläge zu erfahren. Uns aus scheinbar unlösbaren Entweder/Oder Situationen urplötzlich neue, unerwartete und kreative Ideen auftauchen zu sehen. Die Kinder üben sich für etwas einzusetzen, das ihnen wichtig ist, sind gefordert sich abzugrenzen, für sich zu sorgen, Verbündete zu suchen, Teams zu bilden, Mitspielerinnen zu gewinnen.

Ein raum, der die heute eher seltene Chance bietet, der Langeweile und der Frustration, die manchmal aufkommen, ihren Platz zu geben und zu lassen. Da sind keine vorgegebenen Zeitpläne, Aufträge oder Spielsachen, welche die Leere möglichst schnell zu füllen oder zu entfernen versuchten. Diese sich subjektiv zwar nicht unbedingt angenehm anfühlende Erfahrung birgt ein grosses Potential: Die Kinder werden auf sich selbst zurückgeworfen, was ihre ureigenen, schöpferischen und kreativen Kräfte, ihre Motivation und Selbstverantwortlichkeit weckt, belebt und stärkt. Sie erfahren sich als selbstwirksam. In diesem Zusammenhang wird auch der Bezug zur Suchtprävention klar: Sich wahrnehmen, seine Bedürfnisse spüren und ausdrücken können, mit Frustrationen, Grenzen und Stress umgehen können, in Beziehung treten, sich einfühlen und kommunizieren können, sich stark und selbstbewusst fühlen, sind gute Voraussetzungen, um sich durch die Turbulenzen der Pubertät zu navigieren.

Ein hochspannendes Projekt, gerade in unserer Zeit des materiellen Überflusses und der schnellen Bedürfnisbefriedigung.

Wer weitere Informationen möchte, darf sich gerne bei uns melden oder diese Internetseiten besuchen:

www.spielzeugfreierkindergarten.de

www.spielzeugfrei.ch

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