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Das Lostorfer Gemeindemagazin

SPIELZEUGFREIER KINDERGARTEN 2021

Kinder im Kindergarten

ÜBERLEGUNGEN, ABWÄGUNGEN UND EINBLICKE

Es taucht dann und wann die Frage auf, wenn Bekannte, Eltern oder Grosseltern Zeugen vom momentanen Treiben im Kindergarten werden, wozu «DAS!» denn nun gut sein soll.

«DAS!» kann folgendermassen beschrieben werden: Die Kinder rennen, klettern, robben, rollen, schleichen, balancieren, hüpfen durch den Kindergarten. Sie steigen auf Tische, Leitern oder kriechen unter dieselben. Sie liegen in den Gestellen oder reiten darauf. Sie springen aus der Höhe auf Matratzen, verstecken sich, bauen Hütten mit Möbeln, Tüchern, spielen Zirkus, sind als Ritter in ihren Burgen, fahren Zug, U-Boot oder fliegen mit der Rakete zum Mond. Und natürlich haben sie Superkräfte. Sie beobachten oder verkleiden sich als Prinzessin, kreieren Welten, ringen miteinander, messen ihre Kräfte, fabulieren und verhandeln. Sie ziehen sich zurück und fläzen auf einer Matratze, spielen Schlafen.

Sie brummen, schreien, tuten, tönen, quietschen und quatschen. Sie spüren, wann sie hungrig sind, und essen entsprechend dann ihr Znüni. Manche vergessen eben dies vor lauter spielen.

Niemand sagt ihnen, was sie zu tun oder zu lassen haben. Alles, was geschieht wird aus ihren Impulsen kreiert, weiterentwickelt oder wieder fallen gelassen. Es gelten jene Abmachungen, die es braucht, damit Sicherheit gewährleistet ist und es allen wohl ist. Regeln, Ideen, Bedürfnisse und Lösungen werden laufend nach Bedarf vorgeschlagen, eingeführt, verhandelt und umgesetzt.

Natürlich tauchen neben der Freude und Begeisterung auch Langeweile, Ängste, Zorn, Ärger, Neid, Frustration auf – und all dies ist willkommen.

Willkommen als Wegweiser und Spur zu den entsprechenden Bedürfnissen. Um darin einen gemeinsamen Weg zu finden, gibt es eine Glocke mit der geklingelt und zur Versammlung und Besprechung rund um den so gennannten blauen Stuhl gerufen werden darf.

Einer, aus dessen Blickwinkel der Wert, die Sinnhaftigkeit und Bedeutung des Projekts «Spielzeugfreier Kindergarten» sichtbar wird, ist der bekannte Neurobiologe und Hirnforscher Prof. Dr. Gerald Hüther. Er sagt unter anderem, dass das menschliche Hirn sich anhand der Erfahrungen, die man mit anderen macht, strukturiert.

Ich zitiere ausgewählte Ausschnitte – der Leserlichkeit halber ein wenig umstrukturiert – von ihm aus einem Youtube-Video (Link am Ende des Artikels):
«[…] also ich mach’s mal an einem Beispiel deutlich, da ist es ganz schnell einleuchtend. Nehmen wir mal so einen kleinen Jungen, der in die erste Klasse in die Schule kommt und dieses unglaubliche Bewegungsbedürfnis hat, welches eigentlich allen Kindern eigen ist. Die rasen, wenn sie nicht vorher daran gehindert werden, den ganzen Tag umher und sind mit irgendwas beschäftigt. Dazu sagt der Hirnforscher: Die müssen das auch machen, weil sie spielerisch ausprobieren, was man alles mit dem eigenen Körper machen kann. Auch erfahren, was Erschöpfung heisst und wie man seine Kräfte einteilt […]

Und dann sitzt er in der ersten Klasse und merkt, da ist jetzt nix mit dem Bewegungsbedürfnis. – Das will zwar und drückt auch. Aber wenn er jetzt anfängt rumzurennen, kriegt er Ärger. Er kriegt dann auch nicht mit, was da läuft. Ja, was soll er jetzt machen? Er kann doch die Schule nicht verändern, also muss er sich selber verändern. Und das macht er, indem er sein eigenes Bewegungsbedürfnis unterdrückt. Und je besser ihm das gelingt, […] desto kohärenter wird es für ihn. Und deshalb baut das Gehirn dann über dieses Gebiet, wo der Bewegungsdrang generiert wird, eine hemmende Verschaltung. Da liegt dann so wie ein Deckel drauf. Und dann sitzt er da fünf Stunden und rührt sich nicht mehr. Es tut ihm auch nicht mehr weh. Er kann jetzt aufpassen, er kann alles mitmachen, was in der Schule von ihm verlangt wird.

Und das machen wir nicht nur mit dem Bewegungsbedürfnis, das machen wir auch mit dem Bedürfnis irgend etwas zu entdecken. Das kann man in vielen Bereichen beobachten, manchmal auch schon im Elternbereich. Wenn ein Kind immerzu Fragen stellt und es kriegt darauf gesagt «warum, warum ist die Banane krumm» weiss es spätestens dann, dass das Fragen so nicht erwünscht ist.

Oder, wenn man als Kind das fünfte Mal die Küche ausgeräumt hat […], um da ein Segelschiff zu bauen, kriegt man deutlich zu hören, dass das nicht das ist, was erwünscht ist. Und da muss man sein Gestaltungsbedürfnis oder sein Entdeckerbedürfnis unterdrücken. […]»

Meine Überzeugung ist, dass ein sich lebendig, gelingend, selbstwirksam und sinnhaft anfühlendes Leben unter anderem damit verbunden ist, wie stark jemand mit seinen Bedürfnissen nach Autonomie, Verbindung, Mitbestimmung, Sicherheit, Zuwendung, Freude. etc. in Kontakt ist. Darum ist es mir nicht nur eine Freude, sondern auch ein Anliegen, den Kindern diesen Raum, diese drei Monate freie Spiel- und Gestaltungszeit zu ermöglichen.

Es berührt, die Kinder derart in ihrem Fluss und Rhythmus, verbunden mit sich und miteinander, ihrem Fühlen und Wollen, vital und frei, im lebendigen Spiel und spielend mitten im Leben zu sehen.

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